"Benjamin Taylor trat ungeduldig von einem Bein auf das
andere. Seit zwei Stunden wartete er nun darauf, dass endlich die Entladung des
Containerschiffs aus New York beginnen würde. Er hatte eine Sondergenehmigung,
den Entladevorgang selbst zu überwachen. Aber er war ungeduldig. Draußen, vor
den Hafenanlagen, warteten die Sattelschlepper. Insgesamt fünf Stück waren es,
die bald das Lebenswerk von Benjamin Taylor durch Deutschland fahren sollten.
Er musste lächeln. Er war gerade einmal 32 Jahre alt, konnte man da schon von
einem Lebenswerk sprechen? Er dachte daran, wie das alles angefangen hatte.
***
Benjamin Taylor war der einzige Sohn von Frank Taylor, einem
Industriellen aus New York. Dass der Junge Maschinenbau und Elektronik
studieren würde, war im Hause Taylor niemals eine Frage. Schließlich sollte er
eines Tages das Familienunternehmen übernehmen. Für Benjamin war das überhaupt
kein Problem. Technik und Elektronik interessierten ihn ungeheuer. Sein
Lebensweg schien vorgezeichnet. Immer wieder machte er schon während seiner
Studienzeit durch innovative Entwicklungen und technische Neuerungen in der
Entwicklungsabteilung von Taylor Industries auf sich aufmerksam. Aber Benjamin
Taylor hatte noch eine viel größere Leidenschaft. Ihn faszinierten die Fahrgeschäfte
in den Freizeitparks, von denen es in den USA unzählige gab. Er träumte davon,
eines Tages sein eigenes Fahrgeschäft zu entwerfen, zu bauen und zu betreiben.
Diese Pläne behielt er jedoch lange Zeit für sich.
Als Sohn eines Unternehmers gehörte Benjamin Taylor zum
elitären Kreis der Studenten aus der Oberschicht. Immer wieder aber gab es
Stipendien für besonders begabte junge Leute, die sich den Besuch dieser
Universität sonst nicht hätten leisten können. Sie wurden von den meisten
Studenten gemieden. Umso verwunderlicher war es, dass sich ausgerechnet
Benjamin Taylor mit einem von ihnen anfreundete.
Toni Banderoso stammte aus Little Italy, dem italienischen
Viertel von New York. Sein Vater war Fleischer, seine Mutter ging putzen. Keine
guten Voraussetzungen, um sich an der Uni wirklich durchzusetzen. Aber Toni
Banderoso hatte etwas mit Benjamin Taylor gemeinsam. Auch ihn faszinierten
außergewöhnliche Fahrgeschäfte. Die beiden jungen Männer waren eigentlich nur
zufällig am Rande einer Sportveranstaltung ins Gespräch gekommen. Für das
Publikum waren hier einige Karussells aufgebaut worden. Ganz beiläufig hatte
Toni geäußert:
»Das ist doch alles Kinderkram. Das könnte man viel
spezieller und viel spektakulärer bauen.«
Benjamin hatte ihn etwas irritiert angesehen.
»Wie meinst du das? Interessierst du dich für
Fahrgeschäfte?«
Begeistert hatte Toni genickt.
»Ich würde gern selbst mal so ein Ding bauen, aber ich
glaube, das würde ich allein niemals schaffen.«
Benjamin hatte damals nur mit den Achseln gezuckt und den
kleinen Italiener einfach stehen gelassen. Aber die Bemerkung ging ihm nicht
mehr aus dem Kopf. Da war jemand, der dieselben Träume hatte wie er. Vielleicht
war das ein Fingerzeig des Schicksals. Ein paar Tage später wartete Benjamin
auf dem Campus auf Toni Banderoso. Sie hatten die ersten Examen hinter sich
gebracht, das Ende des Studiums rückte näher. Wenn er jetzt nicht mit Toni
sprach, wäre der vermutlich aus seinem Leben verschwunden, bevor sich eine neue
Gelegenheit ergab.
Als Toni über den Campus auf Benjamin zuging, hob der die
Hand. Toni reagierte nicht. Er war sicher, dass er nicht gemeint war. Keiner
dieser Studenten würde freiwillig mit ihm reden wollen. Auch dieser Taylor
nicht, obwohl er vor ein paar Tagen recht nett zu ihm gewesen war.
»Toni? Du heißt doch Toni, oder?«
Irritiert nickte Toni Banderoso.
»Eigentlich Antonio, meine Eltern sind aus Italien. Aber
Toni ist vollkommen o. k.«
»Komm mit, wir müssen reden.«
Benjamin wartete gar nicht ab, ob der andere ihm auch
tatsächlich folgte. Er ging schnurstracks auf seinen am Straßenrand
abgestellten Pontiac zu. Toni folgte ihm, vorsichtig und ungläubig. Was sollte
das? Bisher hatte ihn noch nie jemand von denen aufgefordert, mit ihm zu reden
oder irgendwohin zu fahren. Was wollte dieser Kerl nur von ihm? Aber er stieg
trotzdem in das Auto. Dann fasste er sich ein Herz.
»Worüber willst du denn mit mir reden? Ich meine, es ist ja
nicht gerade üblich, dass sich einer von euch ...«
Er stockte. Er hatte so etwas wie „reiche Bengel“ sagen wollen,
aber das wäre beleidigend gewesen. Schließlich schien dieser Benjamin Taylor ja
eigentlich ganz nett zu sein.
Benjamin grinste.
»Ich weiß schon, wie wir von euch genannt werden. Aber
manchmal scheinen die Dinge anders, als sie sind. Du hast gesagt, du träumst
davon, mal ein eigenes Fahrgeschäft zu bauen. Genau das tue ich auch. Jeder von
uns allein dürfte kaum eine Chance haben, seinen Traum zu verwirklichen. Aber
vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, was meinst du?«
Toni riss die Augen auf.
»Du meinst, du und ich? Zusammen? Wie soll das denn
funktionieren?«
»Das weiß ich auch noch nicht genau. Wenn ich mit meinem
Studium fertig bin, fange ich in der Fabrik meines Vaters in der
Konstruktionsabteilung an. Was hast du vor, wenn du bestanden hast?«
Toni zuckte mit den Schultern. Er hatte sich darüber noch
gar keine Gedanken gemacht. Er würde Bewerbungen schreiben, Absagen kassieren
und vielleicht irgendwann in irgendeiner kleinen Firma anfangen können, die
möglicherweise von Italienern gegründet worden war. Die ach so gerühmte
Chancengleichheit gab es in New York noch nicht wirklich. Hier zählten immer
noch Name und Herkunft und der Sohn eines italienischen Fleischers hatte beileibe
nicht dieselben Chancen wie ein Unternehmerssohn aus der High Society.
»Ich habe eine Idee. Ich werde mit meinem Vater sprechen. Es
müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelingen würde, dir auch
einen Job in der Konstruktionsabteilung von Taylor Industries zu besorgen. Dann
könnten wir zusammenarbeiten.«
Toni hielt die Luft an. Taylor Industries? Das war eines der
größten Industrieunternehmen im Umkreis von mindestens 200 Meilen. Es wäre eine
einmalige Chance für ihn, dort arbeiten zu können. Dafür würde er alles tun.
»Und du meinst, das würde funktionieren? Ich meine, dass
dein Vater mir einen Job gibt?«
Benjamin nickte.
»Ich denke, das wird gar nicht so schwierig werden. Mein
Vater ist so begeistert über meine guten Abschlussarbeiten und darüber, dass
ich bald in seine Fußstapfen trete, der erfüllt mir diesen Wunsch sicher. Also,
ich würde vorschlagen, du machst eine Bewerbungsmappe fertig. So ganz ohne
Formalien wird das nicht gehen, wegen der Personalchefs. Um alles andere
kümmere ich mich dann. Wir werden ein paar Monate brauchen, bis wir uns
eingearbeitet haben und danach fangen wir an, das spektakulärste Fahrgeschäft
zu entwerfen, das es in den USA jemals gegeben hat.«
Toni ließ sich von der Euphorie seines neuen Freundes
anstecken.
»In den USA? In der ganzen Welt, Benjamin. In der ganzen
Welt.«"
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